Terhardt, E., Stoll, G., Schermbach, R., Parncutt, R. (1986). Tonhöhenmehrdeutigkeit, Tonverwandtschaft und Identifikation von Sukzessivintervallen. Acustica 61,57-66


Das musikalische Phänomen der Tonverwandtschaft (Oktav-, Quint-, Quart-Verwandtschaft) wird in drei verschiedenartigen Hörversuchen untersucht. In der ersten Gruppe wird die Tonhöhenmehrdeutigkeit einzelner komplexer Töne erfaßt und beschrieben. Dabei zeigt sich, daß die Verteilung der miteinander konkurrierenden Tonhöhen eines komplexen Tones von dessen Teiltonaufbau abhängt. Es wird gezeigt, daß die im Experiment beobachteten Tonhöhenverwechslungen in der Tat auf sensorische Tonhöhenmehrdeutigkeit zurückzuführen sind und nicht etwa als Wirkung der empfundenen Tonverwandtschaft angesehen werden können; man kann vielmehr umgekehrt die Tonhöhenmehrdeutigkeit als psychoakustische Ursache der Tonverwandtschaft bezeichnen. Danach wird die Tonverwandtschaft zweier Töne durch die partielle übereinstimmung ihrer Tonhöhenverteilungen bewirkt. Daraus folgt, daß Sinustöne nur sehr geringe sensorische Tonverwandtschaft aufweisen können. Die zweite Art von Experimenten betrifft die empfundene Ähnlichkeit von Tönen. Es wird gezeigt, daß Töne, welche im zuvorgenannten Sinne verwandt sind, eine größere Ähnlichkeit aufweisen als andere. Bei Sinustönen wird nur ein sehr geringer Beitrag der harmonischen Beziehungen zur Ähnlichkeit gefunden, was die schwache Ausgeprägtheit ihrer maximal möglichen Tonverwandtschaft bestätigt. Der dritte Versuchstyp betrifft die Identifikation von Sukzessivintervallen. Die Erkennungsleistungen mit Sukzessivintervallen von Sinustönen unterscheiden sich von solchen mit komplexen Tönen nur wenig. Sie hängen zum einen von der Intervallweite, zum anderen von der Tonverwandtschaft ab. Daraus wird geschlossen, daß die Intervallerkennung überwiegend vom erworbenen Empfinden der Tonverwandtschaft, das heißt, "kognitiven" Leistungen abhängt und nur wenig von sensorischen Charakteristika des Gehörs.


The phenomenon of tone affinity (i.e., octave-, fifth-, fourth-affinity) was investigated in three basically different types of experiment. In the first type, pitch ambiguity of isolated complex tones was measured and is described. It turns out that the pattern of pitches produced by a complex tone depends on the tone's part-tone composition. It is shown that the pitch confusions observed in the experiments indeed must be explained by sensory pitch ambiguity; they cannot reasonbly be regarded as an effect of a kind of primary tonal affinity. On the contrary, pitch ambiguity must be regarded as the psychoacoustic basis of tone affinity. According to this reasoning pitch affinity of two tones is explained by the coincidence of some elements of the respective pitch patterns. Further, pure tones can show only very little sensory tonal affinity. The second type of experiment was concerned with similarity of tones. It is shown that tones which in the aforementioned sense have pronounced tonal affinity, are assessed more similar to each other than other pairs of tones. With pure tones only a very small contribution of harmonic affinity to similarity was found; this confirms the conclusion that tone affinity of pure tones is weak. The third type of experiment was concerned with identification of successive intervals. Identification patterns obtained with pure tones are not much different from those obtained with harmonic complex tones. In both cases identification rate is dependent both on interval width and tone affinity. It is concluded that it is acquired tone affinity which affects interval identification, such that "cognitive" rather than sensory characteristics of the ear are essentially involved.


main page